Psychische Abhängigkeit

Der Terminus "psychische Abhängigkeit" ist ähnlich wie der Begriff "Sekte" nicht klar definiert. Dennoch weiß jeder, der ihm begegnet, was damit benannt werden soll. Psychische Abhängigkeit ist negativ bestimmt; legt man das Menschenbild des Grundgesetzes an, wird man an einer harten Kollision mit Art. 2 GG (Handlungsfreiheit, Freiheit der Person) nicht vorbeischauen können.

Psychische Abhängigkeit des Anhängers entsteht - sehr verkürzend zusammengefaßt - durch ein dreistufiges Agieren konfliktträchtiger Gruppen. In einer ersten Stufe wird versucht, den Neuling in seinen bisherigen Sicherheiten, Wertmaßstäben und Erklärungsmodellen so nachhaltig zu erschüttern, daß er nach neuem Boden unter den Füßen tastet. In diese grundlegende Labilisierungsphase hinein werden in einer zweiten Stufe neue, gruppeneigene Denk- und Verhaltensstrukturen implantiert, die neue Sicherheiten zu bieten scheinen. Durch Übungen, Aufgaben u.ä. und stützende Rahmenbedingungen werden diese neuen Denk- und Verhaltensstrukturen in einer dritten Stufe eingeübt und fixiert.

Zunächst muß festgehalten werden, daß die Diagnose "psychische Abhängigkeit" überwiegend eine der Außenwahrnehmung des Umfelds ist. Verwandte, Freunde, Kollegen nehmen beim Anhänger einer Gruppe einen Verlust seiner Denk- und Handlungsautonomie bzw. deren Delegation an die Gruppe bzw. den Führer wahr. Er erscheint als ein Echowesen seiner Gruppe und seines Führers.

Angehörige bezeichnen ihn daher als psychisch abhängig, während er selbst sich als seiner Lehre entsprechend umfassend verbindlich lebend und als für die einzig richtige Sache in hohem Maß engagiert begreift. Dem begeisterten Anhänger stehen die entgeisterten Angehörigen gegenüber. Nur wenige Anhänger verstehen sich selbst als Abhängige; möglich wird dies ohnehin allein in einer Phase des Zweifels an oder des Konflikts mit der Gruppe, in der über einen Austritt nachgedacht wird. An diesem Punkt werden Anhänger ihrer tiefreichenden Verlustangst gewahr und damit des Ausmaßes ihrer Bindung, das sie einer freien Selbstbestimmtheit beraubt hat.

Der Experte Hansjörg Hemminger, der sich intensiv mit dem Markt der Sinnanbieter auseinandergesetzt hat, definiert die psychische Abhängigkeit von einer extremen religiösen oder weltanschaulichen Gruppe wie folgt: "Der Begriff ´psychische Abhängigkeit` wird benutzt für die ungewöhnlich starke und ungewöhnlich exklusive, deutlich oder sogar überwiegend angstmotivierte Bindung eines Individuums an eine Gemeinschaft, die mit religiösen oder weltanschaulichen Begründungen einen umfassenden bis totalen Einfluß auf die Lebensorientierung und Alltagsgestaltung ihrer Mitglieder ausübt."

Angehörigen indizieren spezielle Verhaltensweisen als "psychische Abhängigkeit", die in jedem Falle markante Verhaltensänderungen im Vergleich zur Zeit vor dem Eintritt in die Gruppe darstellen. Als solche gelten:

"- Distanzlosigkeit gegenüber der Gemeinschaft, Willenlosigkeit, scheinbare Zwanghaftigkeit des Verhaltens, persönlichkeitsfremde Handlungsweisen (jeweils gemessen an den Erwartungen Außenstehender)

- Einschränkung oder gar Verlust der bisher möglichen bzw. vorhandenen Realitätskontrolle

- starke Fremdbestimmung alltäglicher Lebensvollzüge, gemessen an üblichen Formen der Einflußnahme

- finanzielle, zeitliche, sexuelle Ausbeutung (wieder gemessen an üblichen derartigen Ansprüchen gegenüber anderen Menschen)

- stereotype Reaktionen in der Kommunikation mit Außenstehenden bezüglich der Gemeinschaft, zu der man gehört, insbesondere Kritikunfähigkeit gegenüber der Gemeinschaft

-Wahrheitsgrenzen gegenüber den bisherigen Aufrichten von strikten moralischen sowie Bezugspersonen

- externe Attribution von Kausalität im jeweiligen Wahrnehmungsrahmen der Gruppe, wobei dies Außenstehenden unplausibel erscheint (z. B. wenn alle Konfliktursachen nur den "Feinden" der Gruppe zugeschrieben werden)

- ungewöhnliche Konformität in der Anhängerschaft, gemessen am gängigen Spektrum von Verhalten und Habitus weltanschaulicher Gemeinschaften

- auffallende Verehrung für Autoritäten, Personenkult."

- Angstgefühle beim Gedanken an eine Trennung von der Gruppe

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