Merkmale und Strukturen potentiell konfliktträchtiger Angebote

Aufgrund der Mannigfaltigkeit der Anbieter und Angebote können an dieser Stelle lediglich typische Merkmale und Strukturen, die viele der konfliktträchtigen Gruppen kennzeichnen, genannt werden. Nicht alle Merkmale treffen auf jede Gruppe und auch nicht in gleicher Intensität zu.

Zunächst gilt es zu erkennen, daß viele dieser Merkmale und Strukturen keine exotischen, sondern in unserer Gesellschaft mehr oder weniger überall präsente sind, ohne eine ausgeprägte Konfliktträchtigkeit zu entfalten. Es handelt sich also offensichtlich um Aspekte, die in menschlichen Sozialbeziehungen immer eine Rolle spielen und vielfach insbesondere für Religion und Weltanschauung geradezu konstitutiv sind. Die folgende Beschreibung der Merkmale und Strukturen ist daher nicht als Kritik an diesen, sondern allein deskriptiv und informativ zu verstehen.

Konfliktträchtiges Potential prägt sich immer erst dann aus, wenn diese Merkmale und Strukturen in ihr Extrem und viele dieser Merkmale gemeinsam innerhalb einer Gruppe ausgeformt werden. Erst dann kann von der Gefahr einer psychischen Abhängigkeit des einzelnen, die von der Gruppe ausgeht, oder von der Gefahr einer kollektiven psychischen Entgleisung einer gesamten Gruppe gesprochen werden. Die Grenzen dabei sind fließend; das Nachstehende kann lediglich Orientierung bieten und nicht von einer differenzierten Sicht auf den Einzelfall entbinden.

 

1)Lehre: Die Lehre einer solchen Gruppe erhebt absoluten Wahrheitsanspruch und spricht allen anderen Lehren Wahrheitsgehalt ab. Polarisierend wird ausschließlich die eigene Gruppe als gut, richtig, ganz, heilsam u.ä. deklariert; die jeweils negative Entsprechung gilt für andere Angebote und Menschen außerhalb der eigenen Gruppe. Wirklichkeit wird in ein Schwarz-Weiß-Weltbild simplifiziert, Grautöne zu Trugbildern umdefiniert. Diese Komplexitätsreduktion von Wirklichkeit soll den einzelnen von der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit systemfremden Inhalten entlasten und damit binden. Meinungsvielfalt kann und soll so nicht herangebildet werden. Eine kleine geschlossene Welt entsteht, in der es sich einfach und entlastet entlang der vorgegebenen Bahnen denken und leben läßt.

In aller Regel enthält die Lehre ein immanentes oder transzendentes Heilsversprechen, dem sich zu nähern ein Weg (der einzig mögliche) zugeordnet ist, welcher kompromißlos zu beschreiten ist, soll das Ich, die Menschheit, die Welt nicht in Chaos oder Zerstörung untergehen.

Mit subtilen Mitteln soll die Lehre vom Bewußtsein des Suchenden verinnerlicht werden: Zweifelnden wird Verständnis und besondere Zuwendung zuteil und attestiert, ob des Zweifels zwar auf unterster Stufe und noch verhaftet im Abzulegenden, insgesamt auf dem einzig rechten Wege zu sein. So verdrängt der Anhänger seine Zweifel aus eigenem Antrieb, um ganz dazuzugehören. Dabei wird er "unterstützt" durch in manchen Gruppen angewandte bewußtseinsbeeinträchtigende Methoden und Techniken, deren Wirkung und Konsequenz für die eigene Persönlichkeit er in der Regel nicht zu überblicken vermag.

 

2) Organisationsstruktur: Ein hohes Ziel erfordert Opferbereitschaft und Disziplin. Und so sehen sich Anhänger in eine strenge sichtbare formale oder subtil verborgene informelle Hierarchie eingebunden.

Ein Führer bzw. eine Führungsgruppe wacht über Lehre und Regeln und genießt uneingeschränkte Autorität bisweilen sogar göttlicher Qualität. Die totale Unterordnung unter den Führer bzw. seine "Unter"-Führer gilt als Mittel zur Erringung des Heils und Maßstab für die Ernsthaftigkeit, mit der der Anhänger die Sache betreibt. Bisweilen drängt sich der Eindruck auf, daß innerpsychische Symptome von Führern auch in Anhängern ausgebildet werden sollen. Die Inhalte werden austauschbar.

Entscheidungen der Führung und Kriterien für deren Zustandekommen bleiben dem einfachen Anhänger verborgen. Werden nicht göttliche Qualitäten in Anspruch genommen, so heißt es für den Anhänger zumindest, daß es nicht um Verstehen, sondern um Vertrauen und "Loslassen" gehe. In antiaufklärerischer Hingabe gelte es, sich von tiefen, dunklen Gründen tragen zu lassen und so wieder Anschluß an kosmische Ganzheiten und unabänderliche Weltenläufte zu gewinnen. Ein hartnäckig Nachfragender hört schnell, daß er noch nicht genug gelesen, meditiert, gebetet oder gedient habe, er "spirituell noch nicht so weit" sei und also ihm das Rüstzeug fehle, Entscheidungen der Führung zu hinterfragen oder zu kritisieren oder auch nur zu verstehen.

Nicht selten werden menschliche Stärken und Schwächen ausgenutzt, damit sich Anhänger gegenseitig disziplinieren. Zweifelnde werden so von anderen Anhängern auf den rechten Weg zurück "unterstützt", Kritiker von anderen denunziert, um selbst die ultimative Hingabe attestiert und belohnt zu bekommen: Die Nähe zur Macht vermittelt das Gefühl der Teilhabe an ihr. An dieser Stelle wird deutlich, daß auch die Suche nach einem liebenden, menschlichen Miteinander in solchen Gruppen vielfach instrumentalisiert werden kann. Verläßliches Miteinander ist gebunden an inhaltliche Konformität des Anhängers und gründet nicht in wirklicher Mitmenschlichkeit. Beziehungen sind weithin vertikal zum Führer ausgerichtet und können zu psychischer Abhängigkeit führen: Die geistige Führerschaft mit ihrem umfassendem Autoritätsanspruch ist aus ihrem ursprünglichen Kulturzusammenhang herausgelöst. Wird sie unverändert in eine Gesellschaft ohne gewachsenen Grund für solcherart Beziehung übertragen, führt sie Konfliktstoff mit sich.

 

3) Reglementierung des Alltags: Religion meint immer den ganzen Menschen. Zwangsläufig entfaltet die Zugehörigkeit zu jeder Religion oder Weltanschauung Wirkungen im Alltag des Anhängers, der sein Wertsystem in Handlung umzusetzen trachtet.

Aufgabe einer staatlichen Informationsschrift ist es nicht, Grenzen zu bestimmen, wie tief eine Gruppierung in die Persönlichkeit ihrer Anhänger eingreifen darf. Wohl aber kann sie darüber aufklären, welche Wirkungen solcherart Eingriffe entfalten können.

Konfliktträchtige Gruppen dringen gezielt und schnell in intimste Bereiche der Persönlichkeit ihrer Anhänger vor und durch ein Regelwerk verändernd ein. Vor allem aber kontrollieren sie den Vollzug und ahnden ggf. Verstöße. Eine Fülle von Regeln für Kleidung, Frisur, Speise, Lektüre, Sexualverhalten, Partnerwahl und Kindererziehung, Zeitgestaltung und Wertebewußtsein nehmen dem Anhänger die Mühen, aber auch die Freiheit eines selbstbestimmten Lebens ab. Harte Sanktionen bei Verstößen können Ablaß gewähren. Der einzelne und die Gruppe können sich so der Fortschritte auf dem Schulungs- und Heilsweg vergewissern; die Illusion von buchhalterischer Abrechenbarkeit menschlicher Entwicklung entsteht und entlastet.

 

4) Zeitliche Einbindung: Um den Anhänger dauerhaft zu binden, wird vielfach die Freizeit des einzelnen in vielen Gruppen bisweilen bis zur Erschöpfung mit Gruppenaktivitäten und vorgeschriebener Lektüre verplant. Das Absorbieren des privaten Zeitbudgets entwickelt eine beachtliche Wirkungsvielfalt:

Der Anhänger verfügt über keine freie Zeit mehr, seine bisherigen sozialen Beziehungen und Hobbies zu pflegen. Die Gruppe wird zur exklusiven sozialen Umwelt, und so unterbleibt die Notwendigkeit, sich mit systemfremden Ideen und Inhalten auseinanderzusetzen, die die immerwährende gegenseitige Bestätigung im Binnensystem relativieren könnten. Eine Distanz zur eigenen Situation kann so nicht mehr aufgebaut oder aufrechterhalten werden.

Bereits nach relativ kurzer Zeit können die Kontakte allein auf Gruppenmitglieder reduziert sein; nur dort noch ist "wahres" Verständnis und Wissen zu finden. Damit verstärkt sich einerseits der gedankliche Focus auf die geschlossene Gruppe. Andererseits wird die Austrittsschwelle aus der "kleinen Welt" erhöht, da ein Austritt einem Verlust aller entscheidenden sozialen Beziehungen gleichkäme. Dieser Verlust ist für den Anhänger in aller Regel angstbesetzt.

Der hohe Zeit- und Kraftaufwand der Anhänger für die Gruppe bildet eine wichtige Grundvoraussetzung für das Wachstum einer Gruppe. Gleichzeitig wird dem Anhänger das Gefühl vermittelt, sein gesamtes Engagement der einzig lohnenswerten Sache zu übereignen.

 

5) Sprache: Um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Anhänger zu stärken, den Zusammenhalt der Gruppen zu demonstrieren und die Distanz zur Außenwelt besonders zu betonen, entwickeln viele Gruppen neben anderen Binnenzeichen der exklusiven Zusammengehörigkeit eine eigene Sprache und Begrifflichkeit. Deren Wirkung kann kaum überschätzt werden kann. Häufig werden Kunstwörter kreiert, deren Bedeutung zunächst nur der Gruppe bekannt ist Zusätzlich werden gebräuchliche Begriffe ihrer eigentlichen Bedeutung in unserer normalen sprachlichen Übereinkunft beraubt und von der Gruppierung neu definiert. Gewohnte Kontrollinstanzen des Sprachbewußtseins werden damit außer Kraft gesetzt. Inhalte verändern sich unbemerkt. Die gruppeneigene Sprache und Begrifflichkeit sind in manchen Fällen dem normalen Sprachgebrauch so weit entfremdet, daß sie Kommunikationsschwierigkeiten außerhalb der Gruppe nach sich ziehen. Die Sprache des Anhängers wird von Außenstehenden als stereotyp und in Denkschleifen verhaftet empfunden. Wirklicher Dialog wird nahezu unmöglich. Dieser Prozeß ist geeignet, den sukzessiven Niedergang bisheriger sozialer Beziehungen außerhalb der Gruppe zu einem Isolationseffekt zu steigern.

Der Anhänger fühlt sich dann nur noch von anderen Gruppenmitgliedern verstanden. Im engen Bedingungsgefüge von Sprache und Denken wird durch eine Binnen-Sprachwelt eine Binnen-Gedankenwelt geschaffen und manifestiert. Diesen Prozeß vermag der Anhänger selbst kaum noch zu reflektieren und mißdeutet seine Kommunikationsprobleme mit Menschen außerhalb der Gruppe oft als emotionale zwischenmenschliche Dissonanz.

 

6) Elitementalität: Untrennbar verbunden mit dem Absolutheitsanspruch der Gruppen ist das Bewußtsein ihrer Anhänger, die Elite der Auserwählten und Geretteten zu sein. Damit verbunden ist eine oft undifferenzierte und umfassende Abwertung des bis zum Eintritt in die vermeintliche Elite gelebten Lebens.

Das elitäre Gefühl ist geeignet, unerfüllte Bedürfnisse insbesondere eines bislang wenig selbstbewußten Anhängers zu verdecken. Es bindet an die Gruppe und verstärkt die Distanz zu den Nichterwählten, die als verloren gelten und daher lediglich Missionsobjekt sind.

 

7) Kritikunfähigkeit: Geradezu auffällig ist die Unfähigkeit der gläubigen Anhänger, auch mit sachlich vorgetragener Kritik umzugehen. Andersdenkende werden unbewußt als Anfechtung der eigenen Entscheidung erfahren. Eine kontroverse Diskussion, die außerhalb der Gruppe als fruchtbringendes Gespräch bewertet würde, wird bereits im Ansatz als unerträglich empfunden. Konflikt- und Dialogunfähigkeit wird oft als besondere Sensibilität und damit Qualität deklariert. Sie verstärkt so den Trend zur Radikalisierung menschlichen Miteinanders bis hin zur Entscheidung zwischen Bekehrung oder Kontaktabbruch.

Günstigstenfalls gilt Kritik von innen wie außen als Ausdruck eines Nichtverstehens des Gesamtsystems und seiner Aussagen; Dialog als ein wirkliches Nachdenken über kritische Äußerungen scheint überflüssig in einer Gruppe, die über die absolute Wahrheit bereits verfügt. Meinungspluralismus schließt sich in einem solchen System aus.

In diesen Kontext gehört auch die Tendenz mancher Gruppe, gegen jede kritische Äußerung gerichtlich vorzugehen.

 

8) Feindbilder: Deutliches Kennzeichen konfliktträchtiger Gruppen sind ihre massiven Feindbilder, die sie bisweilen bis zu Verschwörungstheorien fortschreiben.

Kritiker werden vielfach mit bisweilen der eigenen Lehre widersprechenden Mitteln als Feinde bekämpft; eine entsprechend kriegerische Begrifflichkeit findet sich dann in Äußerungen wieder. In manchen Gruppen gilt ein Kontaktverbot mit Kritikern bis hin zum Trennungsbefehl, ggf. auch innerhalb der eigenen Familie.

Gleiches gilt auch für Aussteiger aus der Gruppe. Selbst ein sanfter Ausstieg eines Anhängers wird oft von den Zurückbleibenden als Anfechtung des eigenen Seins erlebt. Von direkter Verfolgung von Aussteigern kann man nur im Einzelfall bei wenigen Gruppen und oft hochrangigen Aussteigern sprechen, die über Interna informiert sind, welche der Öffentlichkeit verborgen bleiben sollen. Doch auch der abrupte Kontaktabbruch, gezielt gestreute Gerüchte über ein schlechtes Ergehen nach dem Ausstieg oder belästigende Telefonanrufe mit Beschimpfungen werden vom Aussteiger als belastend bzw. schmerzlich empfunden.

 

 

Diese vorgegebenen Bahnen folgen einer Binnenlogik diverser Zirkelschlüsse, die "Außenlogik" für den abhängigen Anhänger außer Kraft zu setzen vermag und zu Verabredungen kollektiver Blindheit führen kann (Der Wahn entbehrt, solange er anhält, nicht einer inneren Logik. Goethe/ Wilhelm Meister.) So kann beispielsweise in einer Gruppe, die für ihre Lehre den "Weg zur Freiheit" reklamiert, durchaus tief in die Privatsphäre (Kleidungsvorschriften, Informations- und Medienabstinenz etc) eingegriffen werden, ohne daß es von Anhängern noch als Widerspruch wahrgenommen wird. "Freiheit zu" selbstbestimmtem Leben im Sinne des GG wird hier zu "Freiheit von" der Notwendigkeit Entscheidungen zu treffen.

Als solche gelten u.a.: Marathonsitzungen von 12 und mehr Stunden täglich, Schlaf-, Essens-, Reizentzug, Hypnose, Meditation, Trance, Einsatz halluzinogener Mittel

Als ein Beispiel kann die semantische Redefinition des Begriffs "Ethik" in der Scientology-Organisation (SO) gelten: "Der Zweck von Ethik ist: GEGENABSICHTEN AUS DER UMWELT ZU ENTFERNEN. Nachdem das erreicht ist, hat sie zum Zweck, FREMDABSICHTEN AUS DER UMWELT ZU ENTFERNEN. Dadurch ist Fortschritt für alle möglich." (Hubbard: Das Handbuch für den ehrenamtlichen Geistlichen, Kopenhagen 1980) Kritiker und Andersdenkende "zu entfernen" ist gewiß nicht das, was in unserer Gesellschaft als Konsens ethischen Handelns gilt, die damit die grundgesetzlich geschützten Werte assoziiert. Die positive Besetzung des Begriffs "ethisches Handeln" wird von der SO als Trägersubstanz genutzt, um diesem diamentral entgegenstehende Inhalte hoffähig zu machen. Nach gleichem Prinzip bezeichnet die SO Kritiker an ihrer Organisation als "Verbrecher".

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