Problembeschreibung

 

"Sekten"- und Psychomarkt

Als ein Phänomen wird der Bereich "Sekten- und Psychomarkt" gemeinhin bezeichnet. Doch nur verhalten ist die breite Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang in der Lage, "das, was in Erscheinung tritt" ("phainomenon" grie.) als eine Erscheinung in ihrem Facettenreichtum zu betrachten. Vielmehr wird diesem Phänomen häufig unreflektiert mit einer diffusen, in der Regel negativ besetzten Gefühlslage begegnet: Unsicherheit, Ratlosigkeit, Bedrohung, Angst, bisweilen durchsetzt mit merkwürdiger Faszination von angeblich Magischem, scheinen auf. Man möchte sich schützen bzw. geschützt werden, und nicht selten wird der Ruf nach dem Staat laut, das zunehmend als Problem empfundene Phänomen mit einem "Verbot" - vermeintlich - zu lösen.

 

Überwiegend sind es spektakuläre Katastrophen mit Todesfolge wie

die das öffentliche Bewußtsein zu diesem Thema prägen. Doch zunehmend werden auch leisere Berichte wahrgenommen und in Verbindung gebracht mit eigenen Erfahrungen und solchen aus dem privaten und beruflichen Umfeld. Aufgrund der Explosion der öffentlichen Diskussion zum Thema und ihrer seit ca. drei Jahren anhaltenden Virulenz ist eine nachhaltige Sensibilisierung der Öffentlichkeit für den Weltanschauungs- und Psychomarkt zu verzeichnen. Trotz einer Fülle von Veröffentlichungen unterschiedlicher Qualität zu diesem Thema muß ein stetiges Interesse in der Öffentlichkeit insbesondere nach sachlicher Information konstatiert werden. Die Neigung, den Blick über spektakuläre Ereignisse und tragische Einzelschicksale hinaus zu heben und ihn auf den gesellschaftlichen Nährboden und mögliche Gefahren für die demokratische Gesellschaft zu lenken, ist noch wenig entwickelt. Diese Blickrichtung macht Mühe: Der Markt ist diffus und bizarr, die Grenzen sind fließend; ein unverstellter Blick wirft vom "Ganz-Anderen" auf Wohlbekanntes zurück.

 

Versuch einer begrifflichen Verständigung

Ein Indikator für die Mannigfaltigkeit und Intransparenz des religiösen, weltanschaulichen und Psychomarktes, für die Schwierigkeiten des Umgangs mit ihm und seine Bewertung ist die bislang weitgehend unzulängliche Begriffsbildung, mit der man dieses Phänomen zu fassen versucht.

So begegnet man noch in den 90er Jahren Bezeichnungen wie "Jugendsekten" (Deutscher Bundestag/ 1992) und "sogenannte Jugendsekten und Psychogruppen" (Baden Württemberg/ 1995), obwohl sich das Angebot der Gruppen heute in aller Regel an Erwachsene richtet und die damals jugendlichen Anhänger der guruistischen "Jugendreligionen" vor hinduistischem Hintergrund (z. B. Ananda Marga, Brahma Kumaris, Bhagwan- und Krishna-Bewegung, Transzendentale Meditation) der 70er und 80er Jahre inzwischen selbst in die Jahre gekommen sind.

Auch Begrifflichkeiten wie "Sekten und Psychokulte" (Bremen/ 1996) und "neue Religionen, Sekten und Psychokulte" (Niedersachsen/ 1996), die sich eng an die in den Vereinigten Staaten übliche Bezeichnung "destructive cults" lehnen, erscheinen für den deutschen Sprachraum eher ungeeignet: Kultisches wird man beispielsweise in manch konfliktträchtigem Psychoangebot vergeblich suchen.

Es ist für eine staatliche Stelle nicht möglich, die polyvalente Bezeichnung "Sekte" ohne einschränkendes Attribut oder differenzierte Definition in ihre Sprache aufzunehmen, da das staatliche Neutralitätsgebot es nicht erlaubt,

1) den theologischen Sektenbegriff zu verwenden, der mit Sekte eine sich von einer Mutterreligion abgespaltene religiöse Gruppe mit von dieser abweichenden Lehre und Praxis in der Nähe einer Häresie bezeichnet.

2) Auch der soziologische Sektenbegriff, der Bezug nimmt auf Gruppen, die eine oft radikale Gegenkultur zu dem entwerfen, was sie an Wertorientierung und Lebensweise in unserer pluralistischen Gesellschaft umgibt, ist hier untauglich. Damit schlösse man konfliktträchtige Gruppen aus, die gerade keine Gegenkultur entwerfen, sondern anerkannte Aspekte unserer Kultur (Leistung, Erfolg, Durchsetzungskraft) zur Heilslehre erklären.

3) Der umgangssprachlichen Sektenbegriff, der bei dem Wort "Sekte" autoritäre Gruppen unterschiedlichster Art meint und Merkmale wie "gezielte Manipulation", "hemmungslose Ausbeutung" und "inhumaner Umgang mit Anhängern" mithört, bringt hier ebenfalls keine angemessene Einordnung.

Bei aller Unklarheit, die den Sektenbegriff umgibt, muß auf dessen hohen Signal- und Gebrauchswert in der Öffentlichkeit hingewiesen werden. Der Begriff "Sekte" kann für eine verantwortliche Differenzierung sinnvoll genutzt werden. So signalisiert die Enquete-Kommission des Bundestages mit der Bezeichnung "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" die Brüchigkeit der Begriffe und scheint damit einen gangbaren Weg beschritten zu haben.

Das Land Berlin hat im 1994er Bericht an das Abgeordnetenhaus mit der Bezeichnung "Neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen und sogenannte Psychogruppen" für gewahrte staatliche Neutralität den Preis begrifflicher Sperrigkeit gezahlt. Doch selbst diese neutrale Bezeichnung wurde von Gruppen als diskriminierend empfunden und gerichtlich, wenn auch ohne Erfolg, angefochten. Der Berliner Senat möchte weitgehend bei seiner Begrifflichkeit bleiben, denn sie nimmt bezug auf die in einen breiten Markt greifende Anfragenstruktur und öffentliche Diskussion. Sensibel gilt es überdies Wandlungsprozesse auch potentiell konfliktträchtiger Gruppen wahrzunehmen, die solche Phasen überwinden und moderate Entwicklungen nehmen.

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